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CHRONIK 9
Im selben Jahr gab es im November für die Familie einen ähnlich betreut von einem Hausvater, war im Vergleich zu der
erneuten Wohnortwechsel – diesmal nach Mettenhof, Ge- im Alter von 15 bis 21 Jahren Aufgenommenen immer klein
meinde Melsdorf. Das Gut gehörte seit 1896 der Familie (Tabellen Banach, S. 258 f.). Zu den typischen Merkmalen
Behr (Chronik Melsdorf, S. 370 ff.). Am 6. Juni 1921 wurde für (drohende) Verwahrlosung zählte u.a. Brandstiftung. Ver-
in Mettenhof die Tochter Marie Henriette geboren (Standes- wahrlosung von Kindern und Jugendlichen galt nach der theo-
amt Flemhude – Nr. 19/21, getauft im Melsdorfer Schulhaus logischen Ausrichtung der Inneren Mission damals als Folge
am 11. November 1923 (Taufeintragung Flemhude Nr. 17). „mangelnder Christlichkeit der Eltern“ – schwierige familiäre
Pastor Harmsen fügte der Zahl 1921 extra als Wort „einund- oder soziale Verhältnisse galten nicht als mögliche Ursache
zwanzig“ hinzu, vermutlich damit das „späte“ Taufjahr 1923 (Banach, S. 102). Die Zöglinge sollten für Gott „gerettet“ wer-
nicht als Schreibfehler interpretiert werden konnte. Sohn Jo- den (s.o. S. 118), was nicht verhinderte, dass wahrscheinlich
hannes wurde in Melsdorf im April 1922 eingeschult, Sohn auch Johannes im Thetmarshof einen ziemlich rauen und we-
Walter im April 1923. nig freundlichen Umgangston des Hausvaters erlebte (s.o. S.
Mit dem gerichtlichen Beschluss der Unterbringung des 177). „Gehorsamsübungen, Drill und körperliche Züchtigun-
Sohnes Johannes zur Fürsorgeerziehung vom 2. Januar 1928 gen“ gehörten ebenfalls zum Erziehungskonzept (s.o. S. 214).
verbinden sich die hier dargestellten Informationen zur Fa- Während Johannes in Rickling war, starb am 25. Juni 1929
miliengeschichte mit denen aus dem Zeitungsbericht über sein Vater im Alter von 64 Jahren im Städtischen Kranken-
das „Großfeuer auf Mettenhof“ im November 1927. Die Zu- haus in Kiel. Im Beerdigungsregister der Kirchengemeinde
ständigkeit für solche Fürsorgefälle lag damals beim Provin- Flemhude gibt es keinen Eintrag über seine Bestattung.
zialverband Schleswig-Holstein. Aus der dort für Johannes Weil der Staat die steigenden Kosten für die kirchliche Für-
Nisick mit dem Aktenzeichen 4 N XII 102 angelegten Akte sorgeerziehung in Rickling nicht mehr tragen konnte/wollte,
wird später in anderem Zusammenhang zitiert; aber leider selber zwei Fürsorgeerziehungsheime gegründet hatte (in
ist diese im Landesarchiv Schleswig-Holstein in Schleswig Itzehoe und Selent), wurden immer weniger Zöglinge dort-
nicht vorhanden – vermutlich eine Folge der Kriegszerstö- hin überwiesen. Die Unterbelegung führte dazu, dass z.B.
rungen in Kiel. im Thetmarshof Schlafräume und Schulbänke nicht erneu-
Als Johannes 1928 aus der Schule in Melsdorf abgemeldet ert werden konnten (Banach, S. 193). Vor allem wegen der
und in die Erziehungsanstalten Ricklingen gebracht wurde,
war für diese kirchliche Institution eine besonders schwieri-
ge Zeit. Vor allem in dem Buch von Sarah Banach mit dem
Titel „Der Ricklinger Fürsorgeprozess 1930 – Evangelische
Heimerziehung auf dem Prüfstand“ (2007) wird die da-
mals prekäre Situation ausführlich beschrieben. Einführend
schreibt die Autorin: „Die Fürsorgeerziehung zur Zeit der
Weimarer Republik war durch Kontinuität und Bruch, durch
Tradition und Moderne, durch Konfessionalität und Pädago-
gik, die Weltwirtschaftskrise, Kostendruck sowie erhebliche
Sparmaßnahmen geprägt“ (S. 15).
Die „vom Landesverein für Innere Mission in Schleswig-
Holstein … getragene Ricklinger Fürsorgeerziehungsanstalt,
die die größte und einzige diakonische Einrichtung dieser
Art für männliche schulpflichtige und schulentlassene
Zöglinge in Schleswig-Holstein war, geriet Ende der 1920er
Jahre in die Kritik“ (Banach S. 15). Durch den revolutionä-
ren Umbruch vom Kaiserreich zur Demokratie und die damit
einhergehende Trennung von Kirche und Staat erschien vie-
len das dortige Menschen- und Weltbild unzeitgemäß, wie
Banach erklärt. Vor allem die weiterhin auf die Erziehung
zum Glauben fixierte Haltung des Landesvereins für Inne-
re Mission verhinderte in Ricklingen die „Pädagogisierung“
(s.o. S. 16). Im Rahmen des Ricklinger Fürsorgeprozesses,
in dem die Klage dreier Zöglinge gegen die „repressiven
Erzeihungsmaßnahmen in Rickling vor Gericht bestätigt
wurde, zeigt, dass der Landesverein für Innere Mission in
der Zeit der Weimarer Republik die Rückständigkeit seiner
Fürsorgeerziehungsarbeit nicht wahrgenommen, hinterfragt
bzw. verändert hat“ (s.o. S. 17 f.).
Johannes Nisick wurde wahrscheinlich im Haus „Thet-
marshof“ untergebracht, da er noch schulpflichtig war. Der
Name dieses Hauses leitet sich von dem Chorherren Dietmar
von Neumünster ab, der besonders mildtätig gewesen sein
soll, gestorben vermutlich 1152 (Wikipedia). Die Gruppe der Abb. 3: Hausordnung der Rickliger Fürsorgeerziehungsanstalten
schulpfl ichtigen Fürsorgezöglinge (6 bis 14 Jahre), familien- (Quelle: S. Banach)