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          großen finanziellen Probleme wurde die Fürsorgearbeit für   Im Schülerverzeichnis notierte der damalige Lehrer Wagner,
          schulentlassene Jugendliche 1931 in Rickling endgültig ein-  dass die Leistungen von Walter Nisick ungenügend waren,
          gestellt – damit sicher auch für Johannes Nisick, der damals   das Klassenziel nicht erreicht wurde - nur die Führung war

          16 Jahre alt und somit nicht mehr schulpflichtig war und in-  gut. Unter „Besondere Bemerkungen“ ergänzte der Lehrer:
          zwischen wahrscheinlich in einem anderen Haus der Anstalt   „War geistig nicht normal“.
          lebte.                                               Für Johannes Nisick war es wahrscheinlich besser, dass er
          Die Fürsorgeerziehung war aber 1931 für ihn offenbar noch   nicht nach Mettenhof zurückkehren musste – dort vermutlich
          nicht beendet, denn in anderem Zusammenhang wird später   abgestempelt als Brandstifter und Fürsorgezögling. Er soll
          erwähnt, dass er im Wakenitzhof in Lübeck untergebracht   etwa 1934 auf dem Bauernhof Ploog im Quarnbeker Ortsteil
          war, einer staatlichen Einrichtung unter Aufsicht des Jugend-  Strohbrück als landwirtschaftlicher Arbeiter gelebt haben.
          amtes. Jugendämter wurden ab 1925 eingerichtet in Folge   Doch für die Familie wurden auch die folgenden Jahre nicht
          des 1924 in Kraft getretenen Reichsjugendwohlfahrtsgeset-  gut!
          zes. Genaueres konnte zu dem Aufenthalt von Johannes im   Als Konfirmationsspruch für Walter Nisick hatte Pastor Pinn

          Wakenitzhof nicht recherchiert werden, denn die Archivun-  1932 einen Vers aus dem Brief des Apostel Paulus an die
          terlagen dieser Einrichtung sollen durch den Luftangriff auf   Kolosser ausgesucht: „Bleibet im Glauben, gegründet und
          Lübeck im März 1942 vernichtet worden sein.          fest, und weicht nicht von der Hoffnung des Evangeliums“
          Als Johannes Nisick zu seiner Familie zurückkehren durfte,   (Kol.1, 23). Wir wissen nicht, ob der geistig behinderte Wal-
          hatte sich viel verändert. Die Weimarer Republik war 1933   ter etwas von dem Sinn des Spruches erfassen konnte; aber
          von der Herrschaft der Nationalsozialisten abgelöst worden.   sein weiteres Schicksal und das seines Bruders Johannes
          Seine im Juni 1929 im Alter von 49 Jahren verwitwete Mut-  machten ihre Mutter Maria Nisick vermutlich nicht gerade
          ter Maria lebte mit den Kindern Walter und Marie Henriette   hoffnungsfroh.
          nicht mehr in Mettenhof (Melsdorf), sondern seit Februar   Im Protokollbuch der Gemeinde Quarnbek ist, wie seine
          1930 in Quarnbek auf dem abseits von Stampe gelegenen   Mutter, 1932 und 1933 auch Walter Nisick aufgeführt – er
          Reimershof, wie bereits eingangs kurz erwähnt.       aber als Wohlfahrtserwerbsloser, der wöchentlich 4,20 RM
                                                               bekam. In den Jahren1934/35 ist er in den Protokollen nicht
                                                               mehr erwähnt. Dafür gibt es im Landesarchiv in Schleswig
                                                               eine Akte aus dieser Zeit (Abt. 64.1, Nr. 34888), in der ein
                                                               Schreiben des Amtsgerichts Kiel über Walter Nisick nach
                                                               seiner Schulzeit Auskunft gibt.
                                                               „Nach der Schulentlassung hat Walter nur gelegentlich Be-
                                                               schäftigung in Landarbeiterstellen gefunden“, u.a. in Groß
                                                               Grönau bei Lübeck. „Sein Wandertrieb veranlasste ihn,
                                                               heimlich die Mutter zu verlassen und durch Betteln seinen
                                                               Lebensunterhalt zu bestreiten. Zuweilen kehrte er nach
                                                               zehn bis vierzehn Tagen aus eigenem Antrieb zurück, mit-
                                                               unter wurde er auch als Landstreicher bettelnd von Ort zu
                                                               Ort aufgegriffen und seiner Mutter wieder zugeführt.“ Wal-
                                                               ter schlief bei diesen Touren „in Asylen für Obdachlose,
                                                               Ställen, Strohschobern oder auch im Freien.“ Und weiter:
                                                               „Strenge Ermahnungen nützten nicht. Sein Versprechen zur
                                                               Besserung war ebenfalls ohne Erfolg.“
                                                               Ende des Jahres 1933 soll Walter Nisick seine Mutter, die
                                                               ihm Vorwürfe gemacht hatte, unter Beschimpfungen körper-
          Abb. 4: Reimershof, bereits baufällig                lich angegriffen haben. Am 1. Februar 1934 verließ er den
          (Quelle AG Dorfchronik Quarnbek)
                                                               Reimershof wieder einmal heimlich, nicht ohne Mitnahme
                                                               von 13 RM, die er aus einem Schrank zuhause entwendet
          Dieses Gebäude wurde inzwischen offenbar von der Kom-  hatte. In diesem Zusammenhang heißt es in dem oben zi-
          munalverwaltung als Unterkunft für Bedürftige genutzt.   tierten Schreiben des Amtsgerichts, Maria Nisick sähe
          Auch Maria Nisick gehörte durch den Tod ihres Mannes zu   selbst ein, „dass der Junge ihr über den Kopf gewachsen
          dem von der Kommunalgemeinde Unterstützung beziehen-  ist.“ Deshalb wünschte sie, dass er „durch eine planmäßige
          den Personenkreis der Fürsorgeempfänger. Sie bekam 1932   Fürsorgeerziehung zur charakterlichen Festigung in diesen
          monatlich 14 RM (Reichsmark), in den folgenden Jahren 34   Entwicklungsjahren gebracht wird, damit er nicht auf die
          RM, wie im Quarnbeker Protokollbuch vermerkt ist. Quarn-  Verbrecherlaufbahn kommt.“ – Auf dem amtlichen Stempel
          bek war nach Auflösung der Gutsbezirke 1928 eine selbstän-  des Schreibens prangt inzwischen zeitbedingt auf der Brust

          dige Kommunalgemeinde geworden.                      des preußischen Adlers das Hakenkreuz.
          Johannes Nisicks Schwester Marie Henriette, eingeschult
          in Melsdorf 1928, besuchte seit Januar 1930 die Schule in   (Fortsetzung folgt)
          Stampe, wie auch der Bruder Walter. Der aber war am 12.
          März 1932 aus dieser Schule entlassen und am Palmsonntag                               Text: Gerlind Lind
          (20. März 1932) in Flemhude konfi rmiert worden – wenige
          Monate nach dem Dienstantritt von Pastor Pinn in Flemhude.
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