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CHRONIK 7
Aus der bereits zitierten Akte im Landesarchiv geht hervor, Mutter in Reimershof auf mit der Behauptung, er habe bis
dass Walter Nisick am 17. Juli 1935 im Städtischen Kran- zum 4. Juni Urlaub bekommen, um sie zu besuchen. Doch er
kenhaus in Schleswig mit dem damals üblichen Verfahren verschwand dann, weder die Mutter noch der Amtsvorsteher
der Sterilisation operiert wurde: „Zentrale Unterbindung und Vagt konnten sagen, wohin. Die Mutter schrieb einen besorg-
Resektion der Samenleiter mit Durchspülung der Samenbla- ten Brief an die Direktion des Aufnahmeheims in Schleswig-
se“ – „Wundgeheilt 29. Juli 1935“. Hesterberg – auch im August 1936 war noch immer nicht
Vorher hatte seine Mutter als gesetzliche Vertreterin des bekannt, wo Walter Nisick sich aufhielt.
noch minderjährigen Sohnes der Sterilisation zugestimmt, Eine Spur findet sich im Landesarchiv noch in einer Akte aus
mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes. Nachdem dem Bereich Justizvollzugsanstalt Kiel (LAS Abt. 357.2 Nr.
auch noch entsprechende ärztliche Fachgutachten vorlagen, 4418). Gegen Walter Nisick war im Januar 1937 ein Haftbe-
hatte das Erbgesundheitsgericht in Kiel am 21. Mai 1935 fehl des Amtsgerichtes Kiel ausgestellt worden. Als letzter
die „Unfruchtbarmachung des Pfleglings Walter Nisick be- Aufenthaltsort ist in diesem Zusammenhang Voorden (bei
schlossen“ (LAS Abt. 355.25 Nr. 2449). Begründung: „Nach Flintbek) genannt. Er war am 13. Januar 1937 wegen Bet-
den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft ist mit grosser telns festgenommen und einen Tag später in Kiel in Untersu-
Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass seine Nachkommen an chungshaft eingeliefert worden. Betteln war schon seit 1933
schweren geistigen Erbschäden leiden werden.“ untersagt, u.a. weil es das Ansehen des deutschen Volkes
beschädigte. Nach Verurteilung zu einer Woche Haft wegen
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses dieses Delikts wurde Walter Nisick unter Anrechnung der
(Berlin, 14. Juli 1933) Untersuchungshaft am 21. Januar 1937 aus der Haftanstalt
Reichsgesetzblatt I 1933, S. 529-531 entlassen. „Zur Zahlung der Haftkosten ist der Verurteilte
unvermögend.“
[Bei Diagnose bestimmter, als vererbbar quali-
fzierter Krankheiten und bei schwerem Alkoho- Laut Aussage seiner Mutter viele Jahre später soll Walter
lismus können Zwangssterilisationen vorgenommen Nisick 1940 zur Wehrmacht eingezogen worden sein. 1935
werden; Einrichtung von Erb gesundheitsgerichten war die allgemeine Wehrpflicht für alle Männer ab 18. Le-
zur Beschlußfassung] bensjahr (wieder) eingeführt worden. Sollte der nach der
§ 1 herrschenden Ideologie für die Volksgemeinschaft minder-
(1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen
Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) wer- wertige junge Mann im Laufe des Krieges plötzlich doch
den, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen noch brauchbar geworden sein – als Soldat? Maria Nisick
Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu hatte nie wieder etwas von ihrem Sohn Walter gehört. Wegen
erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren erfolgloser Suchanfragen wollte sie ihn deshalb 1956 für tot
körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden erklären lassen.
werden.
…………… Durch eine erfolgreiche Anfrage beim Bundesarchiv in Ber-
lin können jetzt einige Daten zum weiteren Schicksal von
Begründung zum Gesetz zur Verhütung erbkranken Walter Nisick ergänzt werden. Er wurde nicht 1940 sondern
Nachwuchses am 26. März 1943 zur Wehrmacht eingezogen – trotz sei-
(Berlin, 26. Juli 1933) ner ihn als Volksgenossen abwertenden geistigen Behinde-
Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer
Staatsanzeiger 1933 Nr.172, S.1-2 rung. Nach der Katastrophe von Stalingrad am 2. Februar
1943 hatte Propagandaminister Goebbels am 18. Februar
[Geburtenrückgang und “hemmungslose” Vermehrung 1943 den totalen Krieg zur Richtschnur politischen und mi-
von “Minderwertigen” machen das Erbgesundheits- litärischen Handelns ausgerufen – so dass nun alle, die auch
gesetz zur bevölkerungspolitischen Notwendig- nur laufen konnten, Soldat werden mussten. Walter Nisick
keit]
……………. kam als einfacher Grenadier (Grenadier-Regiment 258) an
die Ostfront, wo er bei schweren Kämpfen am Dnjepr in der
Abb.6: Zitat aus Gesetz + Begründung (Nr. 8+9 Material Bundes- Ukraine durch Granatsplitter bereits am 2. Oktober 1943 an
archiv) mehreren Gliedmaßen verletzt wurde. Vom Lazarett in Kra-
kau wurde er am 25. Oktober 1943 mit einem Lazarettzug
Im Protokollbuch der Gemeinde Quarnbek wurde Walter Ni- in das Reservelazarett Langensalza (Thüringen) verlegt, von
sick wieder im April 1936 aufgeführt, diesmal aber unter den dort im März 1944 in das Lazarett in Oberhof im Thüringer
„Geisteskranken in den Landesheilanstalten“. Er war wegen Wald verlegt. Die letzte bekannte Nachricht über ihn ist vom
seiner geistigen Beeinträchtigung kein Fürsorgezögling son- August 1944. Zu dem Zeitpunkt war Walter Nisick in Frank-
dern Anstaltspfl egling, wie oben ausgeführt. Im April 1936 reich – nun an der Westfront, die durch die Landung alliierter
kam Walter Nisick in „Außenfürsorge“, d.h. er wurde aus Truppen am 6. Juni 1944 heftig umkämpft war. Seitdem gilt
dem Heim beurlaubt bzw. formal „in Abgang gestellt“, um er als vermisst.
bei dem Landmann Heinrich Mau in Loopstedtfeld (nahe Und was ist aus seinem Bruder Johannes geworden? Ent-
dem Haddebyer Noor bei Schleswig) auf Probe zu arbeiten. sprechend der allgemeinen Wehrpflicht wurde sein Jahrgang
Die Überprüfung im Mai 1936 ergab, dass der Bauer mit (1915) schon im November 1937 einberufen. Vor seinem
Walter Nisick zufrieden war und dieser sich dort wohlfühlte. Wehrdienst hatte wahrscheinlich auch Johannes Nisick sechs
Trotzdem ist er im Juni 1936 von dort offenbar weggelaufen. Monate Arbeitsdienst abgeleistet. Spuren seines weiteren
Bauer Mau hatte Walter Nisick erlaubt, am 2. Pfi ngstfeier- Schicksals finden sich in der Entschädigungsakte Nisick,
tag (1. Juni 1936) das Heim in Schleswig zu besuchen – er Marie (1958-1962) im Landesarchiv in Schleswig (LASH
kam von dort aber nicht zurück, sondern tauchte bei seiner Abt.761, Nr.13775). Aus einem späteren Schreiben von Au-