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          Familiengeschichte „N.“ – eine Spurensuche (Fortsetzung zu Ausgabe 56)

          Am 21. März 1934 teilt die Fürsorgeerziehungsbehörde dem   betrug nur 53 cm, was einen „Turmschädel“ andeutete. Diese
          Kreisjugendamt in Rendsburg mit, dass „der minderjährige   Kopfform, bei der Vorder- und Hinterhaupt etwa gleich groß

          Walter Nisick … vorläufig in Fürsorgeerziehung unterzu-  sind und das Höhenwachstum überwiegt, kann sich unter der
          bringen“ ist. Obwohl bereits im März behördlich festgestellt   Geburt ausbilden – geht dann normalerweise wieder relativ
          wurde, dass „Gefahr im Verzuge ist“, Walter Nisick „bald-  schnell zurück – kann aber auch eine Störung des Knochen-
          möglichst mit seinen noch brauchbaren Ausrüstungstücken,   stoffwechsels bedeuten, der behandelt werden muss. Unbe-
          Arbeits- und Abmeldepapieren … dem Landesaufnahme-   handelt kann sich durch zu frühe Verknöcherung der Schä-
          und Erziehungsheim Schleswig zuzuführen“ sei, wurde diese   delnähte der Gehirndruck erhöhen, das Gehirnwachstum be-
          Aufforderung offenbar erst später umgesetzt. In der Patien-  einträchtigt werden mit der Folge geistiger Einschränkungen
          tenakte (LASH:  Bestand Heilanstalten Schleswig Abt. 64.1   (Quelle: Wikipedia).
          Nr. 34888) befi ndet sich ein Schreiben des Quarnbeker Ge-  Zugleich wird Walter Nisick als „im allgemeinen heiter,
          meindevorstehers August Vagt, in dem er am 2. Mai 1934 be-  zutraulich distanzlos und primitiv“ beschrieben, der aber
          stätigt, dass Walter Nisick entsprechend der Anordnung der   „durch Tätlichkeiten gefährlich werden“ kann. Fazit: Der Ju-

          Provinzialregierung in das Heim in Schleswig-Hesterberg   gendliche wird als „anstaltspflegebedürftig“ beurteilt, aber
          einzuliefern ist. Die Aufnahme in dem Landesaufnahme-   für die Fürsorgeerziehung ist er „wegen seines Schwach-
          und Erziehungsheim Schleswig erfolgte am 3. Mai 1934.   sinns nicht geeignet.“ – „Ein Sterilisationsantrag ist in Vor-
                                                               bereitung.“ Grundlage dieser Äußerung war das „Gesetz zur
                                                               Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933, in
                                                               Kraft seit Januar 1934.
                                                               In der „Materialsammlung des Bundesarchivs Koblenz“
                                                               schreibt Wolfgang Ayaß 1998 dazu: „Im Mittelpunkt der
                                                               Fürsorgepolitik stand nicht mehr das bedürftige Individuum,
                                                               sondern allein die zu stärkende Volksgemeinschaft“ (Einlei-
                                                               tung I). Ziel war nicht die Reintegration, sondern die Aus-
                                                               merzung von „Asozialen“ und „Gemeinschaftsfremden“.
                                                               Ayaß betont, dass diese Grundidee damals keineswegs neu
                                                               war, neu „war das radikale, unnachsichtige und terroristische
                                                               Vorgehen bei der Erfassung und Vernichtung“ der „Minder-
                                                               wertigen“ (s.o.). Die Zwangssterilisierung zur Ausschaltung
                                                               der Fortpflanzung u.a. von Schwachsinnigen, der größten

                                                               Gruppe der von dem Gesetz Betroffenen, war bald gängi-
                                                               ge Praxis. Walter Nisick passte genau in dieses Denkschema
                                                               der „Ausmerze“ zur „Reinhaltung eines gesunden Volkskör-
                                                               pers“.
                                                               Am 30. Mai 1934 wurde über den damals 17-Jährigen in
                                                               Schleswig ein Erziehungsbericht erstellt. Auch darin lautet
                                                               die Schlussfolgerung, dass bei ihm wegen „seiner allgemei-
                                                               nen Primitivität und Undifferenziertheit … eine planmäßi-
                                                               ge Bildung des Charakters durch Fürsorgeerziehung nicht
                                                               möglich sein“ wird. Walter Nisick ist nicht nur geistig sehr
                                                               zurück, wie es in dem Bericht heißt, sondern er ist „körper-
                                                               lich plump und sehr schwerfällig.“ Betont wird, dass die
                                                               Überführung in das Heim in Schleswig „auf Walter keinen
                                                               erkennbaren Eindruck gemacht“ hat. „Mit gleichbleibender
          Abb.5: Schreiben des Gemeindevorstehers Vagt
                                                               Anhänglichkeit und Heiterkeit begegnete er vom ersten Tag
          Am 24. Mai 1934 verfasste der Oberarzt Dr. Rücker-Embden   an den Erziehern.“ Und weiter: „Die ihm zugewiesenen Ar-
          eine „Fachärztliche Aeusserung“ über Walter Nisick – heut-  beiten fasste er willig an. Dauernde Beaufsichtigung, immer
          zutage mit Vorsicht zu lesen, denn die Sprache ist zeitbe-  neue Hinleitung und starke Begrenzung eines Auftrags sind
          dingt ideologisch eingefärbt. Einleitend betont er, dass dieser   bei ihm erforderlich.“
          „erblich belastet“ ist. Mutter Maria Nisick wird als geistig   An Sauberkeit und Ordnung konnte Walter Nisick nur lang-
          beschränkt und willensschwach charakterisiert (die Kreis-  sam gewöhnt werden. „Die Ursache liegt – neben dem Man-

          fürsorgerin hatte von einer „untüchtigen Hausfrau“ gespro-  gel an Einsicht – in einem Pflegemangel in früherer Zeit.“
          chen), der verstorbene Vater Johann soll dem Alkohol zuge-  Trotz dieses erweiterten pädagogischen Blickwinkels auf das
          neigt gewesen sein. Der ebenfalls erwähnte Bruder Johannes,   häusliche und soziale Umfeld blieb dem Jugendlichen die
          Fürsorgezögling im Wakenitzhof, wird als „wenig begabt“   Zwangssterilisierung nicht erspart. Er entsprach ganz und
          und „geistig minderwertig“ beschrieben. Die „Schwester soll   gar nicht dem Leitbild der NS-Zeit, nach dem die Hitler-
          ziemlich grosse Dummheiten machen …“.                jungen „Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie
          Bei Walter Nisick diagnostiziert der Oberarzt „eine abnorme   Kruppstahl“ werden sollten, wie Hitler 1935 plakativ in einer
          Kopfform und angeborenen Schwachsinn“. Der Kopfumfang   öffentlichen Rede formulierte.
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