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CHRONIK                                                                                             9


                                                 ihn. Auch     Zorn und Rachegelüste den Deutschen gegenüber hatten,
                                                 die aufge-    scheint nachvollziehbar. Ethische und moralische Werte
                                                 schreckten    und Normen waren in weiten Teilen Europas während des
                                                 Nachbarn      Krieges abhanden gekommen. Aber hier liegt eine besondere
                                                 wurden        Konstellation vor: Ethnische Polen hatten in Bossee ethni-
                                                 zum Ziel      sche Polen erschossen. Alles deutet darauf hin, dass einer
                                                 der Raub-     der Täter während des Krieges enge Kontakte nach Bossee
                                                 mörder:       hatte. Er wird also gewusst haben, dass die Hälfte der in der
                                                 Carl Berli    Räucherkate angetroffenen Personen gebürtige Polen waren,
                                                 konnte nur    spätestens aber, als Valentin Roczek auf Polnisch um sein

                                                 deshalb       Leben flehte, muss den Tätern klar gewesen sein, um wen es
          Valentin Roczek (1885   Michalina Roczek   flüchten,   sich hier handelte.
          – 12. Januar 1946)   (1882 - 1949)     weil einer    Die Frage, wie das zu erklären ist, wird sich wohl nicht
          (Sammlung Karl-Heinz   (Sammlung Karl-Heinz   der Pisto-  abschließend beantworten lassen, einen Ansatz gibt es al-
          Hagge)             Hagge)
                                                 lenschüt-     lerdings: Valentin Roczek war im Frühjahr 1914 mit seiner
          zen Ladehemmung hatte, Frau Berli erlitt einen doppelten   Frau Michalina und den beiden in Dąbrówka im damali-
          Beindurchschuss. Auch der Hund der Berlis wurde erschos-  gen Russisch-Polen geborenen Töchtern Bronisława und
          sen.                                                 Władisława als „Schnitter“ ins Deutsche Reich gekommen.
          Da die Verbrecher die Telefonleitung durchgeschnitten hat-  Die Löhne waren hier höher als im Zarenreich. Durch ei-
          ten, dauerte es einige Zeit bis die Polizei eintraf. Ihr bot sich   nen Arbeitsagenten waren sie nach Bossee vermittelt wor-
          ein verheerendes Bild: Fünf Tote, alle Schränke waren auf-  den. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914
          gebrochen und die geräucherten Fleischwaren gestohlen.   hatte die eigentlich obligatorische Rückkehr in die Heimat
          Zwei der in der Wohnung der Möllers Anwesenden überleb-  verhindert. Aus den Saisonarbeitern wurden dringend benö-
          ten. Der 25-jährige Josef Roczek hatte unter einem der Toten   tigte Dauerarbeitskräfte. Drei Söhne, Josef, Karl und Walter,
          gelegen und der 10-jährige Max Möller hatte sich unter einer   wurden in Bossee geboren. 1929 wurde Valentin Roczek für
          Bettdecke versteckt. Mit den Aussagen der beiden began-  „15-jährige ununterbrochene Tätigkeit bei demselben Ar-
          nen die Nachforschungen zu den Raubmördern. Die beiden   beitgeber“ im Kirchspiel Westensee ausgezeichnet und in der
          Überlebenden hatten einen der Täter an der Stimme erkannt   Zeitung gewürdigt. Wann die Tochter „Władisława“ sich in
          und gaben an, es habe sich um den Freund eines polnischen   „Anna“ umbenannt hat, ließ sich nicht klären. Meine Nach-
          Mädchens, das während des Kriegs als Zwangsarbeiterin auf   barin „Anna Hagge“ war also eine geborene „Władisława
          Bossee gewesen war, gehandelt. Die Untersuchungen der   Roczek“, Tochter eines polnischen Saisonarbeiterehepaares
          Kriminalpolizei konzentrierten sich zunächst auf die wenige   und geboren 1913 im polnischen Teil des russischen Zaren-
          Kilometer entfernt liegenden polnischen Lager in Jägerslust   reiches. Auch wenn die Söhne der Familie Roczek während
          bei Achterwehr und Sehberg bei Schönwohld. Dort lebten im   des Zweiten Weltkrieges noch nicht die deutsche Staatsan-
          Januar 1946 etwa 1500 bei Kriegsende befreite Zwangsar-  gehörigkeit besaßen und deshalb nicht zur Wehrmacht ein-
          beiter, Zwangsarbeiterinnen, Kriegsgefangene und Konzent-  gezogen wurden und wenn Anna Hagge ihre Kinder mit
          rationslagerhäftlinge. Obwohl inzwischen die Namen zweier   polnischen Wiegenliedern in den Schlaf gesungen hat, so
          mutmaßlicher Tatbeteiligter bekannt waren, die Briten das   ist doch deutlich, dass die Integration der Familie Roczek
          Lager Jägerslust vollständig abgeriegelt und durchsucht hat-  in die deutsche Gesellschaft weit fortgeschritten war. Genau
          ten, blieb die Fahndung erfolglos. Angenommen wurde, die   das könnte den im Januar 1946 ermordeten Mitgliedern der
          Täter seien in die sowjetische Besatzungszone gefl ohen und   Familie zum Verhängnis geworden sein. Es gibt weitere Bei-
          hätten sich so einer Festnahme entzogen. Der Fall ist nie auf-  spiele dafür, dass Wut und Hass der polnischen Opfer mehr
          geklärt worden.                                      noch als gegen die Deutschen sich gegen Polen richtete, die
          Unvorstellbar wird Anna Hagges Entsetzen gewesen sein,   mit den Deutschen vermeintlich gemeinsame Sache gemacht
          als sie am folgenden Tag von der Ermordung ihrer Angehö-  hatten.
          rigen erfuhr. Anna hatte 1936 den Landarbeiter Willy Hagge   Für seine Freude am Erzählen in wohlklingendem Holstei-
          geheiratet. Die beiden waren nach Dorotheental gezogen, wo   ner-Platt danke ich Karl-Heinz Hagge sehr herzlich.
          sie eine Deputatarbeiterstelle angenommen hatten. In der Ja-
          nuarnacht 1946 verloren Max und Thea Möller beide Eltern,                                Karsten Dölger
          den Großvater und den Bruder, Anna Hagge den Vater, die
          Schwester, den Schwager und den Neffen. Daran, wo seine
          verwaiste Cousine Thea und der Cousin Max aufgewachsen                                   Wehrführer
                                                                                                   Bernd Osbahr
          sind, konnte sich Karl-Heinz Hagge nicht erinnern. Er war                                ehrt Karl-Heinz
          im Januar 1946 gerade vier Jahre alt. Später, im Erwachse-                               Hagge 2019
          nenalter, hatte er aber Kontakt zu beiden. Max sei zunächst                              für 60-jährige
          Bergmann im Ruhrgebiet gewesen, als seine Gesundheit an-                                 Mitgliedschaft in
          geschlagen war, versuchte er sich mit einem Taxiunterneh-                                der F.F. Stampe
                                                                                                   (Foto: Dieter
          men, Thea habe mit ihrem Mann in Mettenhof gewohnt.                                      Uschtrin, Unsere
          Eine wichtige Frage bleibt ungeklärt: Dass die nach dem                                  schöne Gemeinde
          Zweiten Weltkrieg befreiten polnischen Zwangsarbeiter,                                   Quarnbek, Nr.
          Zwangsarbeiterinnen und KZ-Häftlinge einen unbändigen                                    49)
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