Page 8 - Quarnbek 60
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          Meine Nachbarin Anna Hagge                           rief ich Karl-Heinz Hagge an. Der war zunächst am Telefon
                                                               etwas reserviert, denn außer einem freundlichen „guten Tag
          Der „Wiedenkamp“ war die kleine Welt meiner Kindheit.   und guten Weg“ hatten wir in den vergangenen Jahrzehnten
          Damals wurden die 1952/1953 errichteten Landstellen an   wenig Kontakt gehabt. Als ich mein Anliegen mit den Stich-
          der Schotterstraße „Siedlung Dorotheental“ oder einfach   worten „Roczek“ und „Bossee“ begann vorzutragen, merk-
          „Reimershof“ genannt, denn ganz am Ende des Weges lag   te ich, dass ich am anderen Ende der Leitung in Flemhude
          die Ruine des vor mehr als 200 Jahren aus Stampe ausgesie-  Karl-Heinz´ Interesse geweckt hatte: „Karsten, ick weet, wo
          delten Bauernhofes, der über Generationen hinweg von einer   Du op dal wullt“, unterbrach er mich. Ich lag also richtig
          Familie Reimer bewirtschaftet worden war. Einen guten Ki-  mit meiner Vermutung, und so verabredeten wir uns, um den
          lometer von der Landstraße Ottendorf-Stampe entfernt hat-  Hergang des Verbrechens auf der Grundlage seiner Famili-
          ten meine Eltern ihre Siedlung. Die direkten Nachbarn waren   enerinnerung und meiner Rechercheergebnisse zu rekonst-
          die Familien Ahl und Dittmann. Die Ahls waren Flüchtlinge   ruieren und natürlich auch, um Reimershof-Erinnerungen
          aus Eydtkuhnen im damaligen Ostpreußen, nicht weit ent-  auszutauschen.
          fernt von der litauischen Grenze. Dittmanns waren ebenfalls   Karl-Heinz erzählte mir, seine Tante Bronisława, „Bronka“,

          geflohen und stammten aus der Nähe des heute polnischen   die Schwester seiner Mutter, habe damals mit ihrem Ehe-
          Thorn in der Weichselniederung.                      mann, dem Landarbeiter Ludwig Möller, und ihren Kindern
                                                               Wilhelm, Thea und Max in einem älteren Bauernhaus in
                                                               Bossee gewohnt. In der zweiten Wohnung des Hauses leb-
                                                               te der Feldvogt Carl Berli mit seiner Frau. Das Haus wurde
                                                               außerdem als Räucherkate genutzt. Es hingen dort Würste,
                                                               Speckseiten und Schinken im Rauch, die in der Notzeit nach
                                                               Kriegsende sicher ein Vermögen wert waren. Weil es bereits
                                                               eine Woche vorher einen Einbruchsversuch gegeben hatte,
                                                               hielten sich zusätzlich zur Familie Möller auch Bronisławas
                                                               Bruder, Josef Roczek, und der Landarbeiter Johnny Stamp in
                                                               der Wohnung auf. Wegen der unsicheren Zeiten so kurz nach
                                                               dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Gutsverwaltung
                                                               Valentin Roczek, dem Vater von Bronisława Möller und An-
                                                               na Hagge, das Amt des Nachtwächters übertragen. Die Ein-
          Die Siedlung von Anna und Willy Hagge am Wiedenkamp etwa   brecherbande muss die Lage vorher auskundschaftet haben,
          1955  (Sammlung Karl-Heinz Hagge)                    denn genau in dem Augenblick, als Valentin Roczek sich in
                                                               der Wohnung seiner Tochter aufwärmen wollte, schlugen sie
          Die nächsten Nachbarn auf dem Weg nach Stampe waren   zu.
          Willy und Anna Hagge mit ihren Kindern, die ebenfalls
          eine Siedlung bewirtschafteten. Da der jüngste Sohn Karl-
          Heinz („Heinzi“) aber zwölf Jahre älter war als ich, war die
          Bekanntschaft oberflächlich. Aber hin und wieder kam ich

          natürlich auf meinen Streifzügen durch die Felder doch an
          der Hofstelle vorbei. Vor dem Schäferhund hatte ich großen
          Respekt, aber wenn Anna Hagge mit einem Bonbon winkte,
          konnte ich natürlich nicht widerstehen und fand mich dann in
          der gemütlichen Wohnküche wieder. So vergingen die Jahre,
          meine Eltern gaben 1966 die Landwirtschaft auf, und 1969   Meldung im Kieler Nachrichten-Blatt vom 14. Januar 1946
          zogen wir nach Landwehr. Anna Hagge wurde zu einem Teil
          meiner Kindheitserinnerung.                          Der 17-jährige Sohn Wilhelm Möller bemerkte die Einbre-
          Vor einigen Monaten – Jahrzehnte später – zog der Eintrag   cher zuerst und wurde sofort erschossen. Auch die Eltern
          zu Anna Hagge im Flemhuder Beerdigungsregister meine   Möller und Johnny Stamp wurden ohne Zögern erschossen.
                             ganze Aufmerksamkeit auf sich.                                       Valentin Roczek
                             Meine ehemalige Nachbarin war                                        hatte erkannt,
                             im Sommer 1983 gestorben. Was                                        dass es sich bei
                             ich nicht gewusst hatte und womit                                    den Einbrechern
                             ich als Kind auch nichts hätte an-                                   um Polen handel-
                             fangen können, war ihr Geburts-                                      te, und fl ehte auf
                             name „Roczek“. Diesen Namen                                          Polnisch um sein
                             kannte ich aus dem Zusammenhang                                      Leben. Umsonst,
                             mit den Opfern eines der größten                                     zwar plädierte
                             Verbrechen unserer Gegend: dem                                       einer der  Täter
                             fünffachen Mord in Bossee in der                                     dafür, ihn am
                             Nacht vom 11. auf den 12. Januar   Illustration zu einer Reportage der   Leben zu lassen,
          Anna Hagge (1913-                                    Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung
          1983) (Sammlung    1946. Um die Frage aufzuklären,   (30. September 1967) zum Tathergang in   das half nicht, ein
          Karl-Heinz Hagge)  ob es einen Zusammenhang gab,     Bossee am 12. Januar 1946          anderer erschoss
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